22 Bahnen - Den Kopf über Wasser halten
22 Bahnen ist als Roman schon ungemein erfolgreich gewesen - kein Wunder also, dass auch in unserem Team jemand das Buch zur Verfilmung gelesen hat. Loorie Wutz blickt mit dieser Perspektive auf die deutsche Leinwandadaption von Regisseurin Mia Maariel Meyer, die auch Daniel Pook durchaus gerne im Kino gesehen hat. Dass es grundsätzliche Kritikpunkte an der Handlung an sich gibt, da sind sich unsere beiden im Podcast allerdings ebenso einig.
Seichte Spoiler: Wir reden insgesamt sehr allgemein über 22 Bahnen. Da die Romanvorlage aber schon recht bekannt ist, erwähnen wir im Podcast an einer Stelle kurz ungefähr, welchen Ausgang der Film nimmt und es kommen auch ein paar Schlüsselmomente aus dem späteren Handlungsverlauf lose eingestreut zur Sprache.
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Unsere Meinung aus dem Podcast als Text zusammengefasst:
22 Bahnen ist Mia Maariel Meyers originalgetreue Verfilmung von Caroline Wahls Bestsellerroman. Sie zeigt im Verhältnis zu vergleichbaren deutschen Kinofilmen erfreulich starkes Schauspiel, atmosphärische Inszenierung, leider aber auch einige Grundproblem der Vorlage.
Tilda (Luna Wedler) ist eine junge Mathematikstudentin aus einer deutschen Kleinstadt, die sich neben der Uni noch um ihre kleine Schwester Ida kümmern und im Supermarkt an der Kasse arbeiten muss. Ihre Mutter ist seit Jahren alkoholkrank und eine ständige Gefahr für sich und andere. Ihre Versäumnisse fängt Tilda seit eh und je auf, inklusive der Mutterrolle für Ida. Während der mathematisch sehr begabten Tilda in Berlin ein Promotionsplatz angeboten wird, muss sie entscheiden, ob sie dafür ihre Schwester zurücklassen kann. Und falls ja, wie sie Ida am besten darauf vorbereitet.
Auf persönlicher Ebene von Tilda wird diese Geschichte ordentlich erzählt, wir haben 22 Bahnen also gerne gesehen. Jedoch zieren sich Buch und Film davor, tiefergehende ökonomische Realitäten in einer Situation wie der geschilderten vollends abzubilden. Gerade die Mutter wird zuweilen als Wrack gezeigt, ist unzuverlässig und trinkt sich häufig besinnungslos. Dies sind in Buch und Film aber quasi nur in Reihe geschaltete Happenings. Existenzielle Ängste drängen hingegen nie spürbar in den Alltag von Mutter und Töchtern, deren Väter wir überdies nie sehen.
Zwar müssen die beiden Halbschwestern beim alltäglichen Einkauf auf Markenprodukte verzichten - Essen im Kühlschrank, Strom, Wasser und Miete sind hingegen nie drängende Probleme. Zumindest im Film fragen wir uns, wo dafür immer genug Geld herkommt. Aus der Romanvorlage wissen wir, es gibt Unterhaltszahlungen. Die gar nicht mal so kleine Wohnung wirkt trotzdem meist ausgesprochen aufgeräumt, gut situiert und sauber, angesichts aller Umstände.
Tilda, klug, diszipliniert und souverän, scheint trotz der ganzen belastenden Verantwortung nie an Grenzen zu stoßen, die sie sich nicht der kleinen Ida willen selber setzt – außer in Momenten, in denen die Mutter überdosiert oder fast die Wohnung abbrennt. Dann rettet sie die Situation aber ebenso routiniert, findet ihre weggelaufene Schwester wieder, bringt alles ohne große Nachwehen gerade noch rechtzeitig ins Lot. Lässt die Dinge anscheinend dann aber weiter laufen wie sie sind. Anstatt langfristig Konsequenzen zu ziehen – Jugendamt, Pflegefamilie für Ida, klare Schnitte für die Mutter – bleibt alles in einem Kreislauf, den der Film zwar kritisch anreißt, aber nicht konsequent durchspielt oder glaubwürdig mit Tildas so patent auftretendem, vernunftsbasiertem Charakter in Einklang bringt.
Darin liegt auch ein Spannungsverlust: Tilda ist vom ersten Bild an stark, emanzipiert und klarsichtig, und bleibt es bis zum Ende. Eine Entwicklung ihrer Figur – vom Überfordertsein zur Stärke, oder von der Stärke zum Zusammenbruch – findet kaum statt. Ist ansatzweise nur in Rückblenden erkennbar. Auch die Liebesgeschichte mit Viktor, dem Bruder eines Jugendfreundes, der bei einem tragischen Unfall ums Leben kam, wirkt eher wie ein beiläufiges Nebenmotiv, um den Plot nicht ganz so banal wirken zu lassen. Ja, Viktor trägt dazu bei, Tilda sich mit ihrer Vergangenheit konfrontieren zu lassen und eine ungeklärte Schuldfrage aufzulösen, was ihren Mut für Neuanfang sicherlich bestärkt. So richtig schien das aber vorher alles gar keine entscheidende Hürde für sie gewesen zu sein - mutmaßlich sogar eher eine begünstigende Mahnung, nicht nach Vorbild ihrer Mutter dem Alkohol klein bei zu geben.
Eigentlich ebenso nur Beiwerk, um vom fehlenden Tiefgang abzulenken: Das titelgebende Ritual, die 22 Bahnen, die Tilda täglich schwimmt, soll ihre Disziplin und den Halt in ihrem chaotischen Alltag symbolisieren. Im Film bleibt es jedoch ein hübsches Bild, dramaturgisch nie so bedeutungsvoll, wie es der Titel suggeriert. Statt Motor der Geschichte ist es eher ein austauschbares Ornament, ohne das die Geschichte großteils unverändert abgelaufen wäre.
Stärken hat der Film trotzdem. Luna Wedler verkörpert Tilda mit einer Authentizität, die deutsche Produktionen selten eingehen: Die Mutterfigur wird nicht nur als „Monster“ gezeichnet, sondern ambivalent – eine kranke Frau, die ihre Töchter liebt, auch wenn sie ihnen zugleich untragbare Lasten aufbürdet. Diese Balance hebt den Film von reinen Klischeedarstellungen ab und gibt ihm emotionale Glaubwürdigkeit.
Am Ende bleibt 22 Bahnen ein Film, den wir gerne gesehen haben, ohne dass er lange nachwirkt.. Er ist besser gemacht als viele deutsche Gegenwartsdramen, vermeidet die gängigen Katalog-Ästhetiken und liefert glaubwürdige Figuren. Doch er scheut die schmerzhafteren Wahrheiten: dass Kinder alkoholkranker Eltern oft nicht einfach so „alles schaffen“, dass das deutsche Sozialsystem Eingriffe erzwingen würde, dass Lebenswege häufig im Chaos statt in der Promotionszusage enden.
Es ist nur ein Ausschnitt eines fiktiven Einzelschicksals, ohne Weitsicht für Systemkritik. Ein gegenwartsrelevantes Gesellschaftsdrama - das auch unabhängig vom Buch hier durchaus drin gewesen wäre - sehen wir in 22 Bahnen deswegen nicht.
(Autor: Daniel Pook)
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Dieser Podcast wurde von Daniel Pook mit Loorie Wutz in Berlin aufgenommen.