Karla - Vom Glauben daran, dass das Gute gewinnt
Karla erzählt die wahre Geschichte eines mutigen Mädchens, das Anfang der 1960er Jahre ihren eigenen Vater wegen Missbrauchs vor Gericht brachte. Es war der erste Fall in Deutschland, bei dem sich ein Kind gegen Gewalt im Elternhaus mithilfe der Justiz zur Wehr setzte, lange bevor Prügelstrafen, sexueller Missbrauch und Kinderrechte in der öffentlichen Wahrnehmung, auch vor dem Gesetz, so gesehen wurden, wie es heute dank vieler positiver Entwicklungen im Allgemeinen der Fall ist. Die Verfilmung hätte eindringlicher sein müssen, auch schauspielerisch fehlt es an Facetten. Dennoch haben wir uns an das Grundthema und die Heldin im Mittelpunkt gerne heranführen lassen, da sie exemplarisch für vieles steht, das es braucht, um strukturelle Ungerechtigkeiten zu durchbrechen.
Daniel spricht eher allgemein über die auf wahren Begebenheiten beruhende Story und deren Aussagen, ohne zu viele Details oder den exakten Verlauf und Ausgang zu verraten. Ungefähr lässt sich anhand des Podcasts und der historischen Begebenheiten dennoch einfach vorausahnen, wie Karla ungefähr verläuft.
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Bericht von der Tagesschau über lange, ausführliche Recherchen für den Film.
Daniels Meinung aus dem Podcast als Text zusammengefasst:
Ein zwölfjähriges Mädchen läuft ihrer Familie weg, mitten im Wald, als sie während einer Autofahrt kurz rasten. Wir wissen erst gar nicht, warum, aber es scheint so, als sei die Mutter sich im Moment des Weglaufens ihrer Tochter sehr bewusst, was nun passieren würde - und auch warum es passiert. Das zumindest ist mein Eindruck, des Beginns von Karla, einem Justizdrama auf Basis wahrer Begebenheiten, die sich Anfang der 1960er-Jahre in Deutschland zugetragen haben.
Es ist die Geschichte eines mutigen Mädchens, das sich mit nur zwölf Jahren vor Gericht gegen den wiederholten sexuellen Missbrauch durch ihren Vater zur Wehr setzt. Aber auch gegen das Schweigen ihrer Familie, im Speziellen ihrer Mutter, die sie im Wald kurz vor ihrem Verschwinden so vorwurfsvoll angeblickt hat. In einer Zeit, in der jegliches Vorgehen gegen Gewalt innerhalb des eigenen Umfelds, besonders als Verrat an der eigenen Familie, aber auch wegen eines von Männern dominierten Justizapparats, geradezu ein Novum war. Opfer wurden meistens mit Häme bedacht, anstatt ihnen zu glauben, sodass sie deswegen in viel zu vielen Fällen von Vornherein nicht nach Hilfe oder gar Gerechtigkeit zu fragen wagten. Oft aus Angst vor den Konsequenzen, noch öfter bloß aus tiefer Scham.
Die reale Karla wollte, weil es ihr immer noch genauso geht, diesen Film erst gar nicht sehen. Und auch ihr echter Name wurde hier deswegen nicht verwendet. Sie traf vor Jahren schon mit Drehbuchautorin Yvonne Görlach zusammen, trug also mit ihren Erinnerungen zur Verfilmung bei. Aus einem sehr guten Bericht der Tagesschau habe ich erfahren, dass Görlach 13 Jahre Recherche betrieben, Fallakten und andere Dokumente studierte - sich mit der echten Geschichte also zutiefst auseinandergesetzt hat.
Bemerkenswert an den Geschehnissen ist, wie unerschütterlich Karlas eigenes Rechtsbewusstsein die Option gar nicht offen lässt, ihr Vater könne unbelangt davonkommen. Es geht ihr nicht einfach um Rache oder eine Flucht aus dem Elternhaus. Sie fordert Gerechtigkeit, die kompromisslose Wahrheit. Und für sie kann das Ergebnis auch nur so lauten. Sie ist stur und entschlossen, das durchzusetzen, weil sie an die Justiz glaubt und sehr genau weiß, was ihr zusteht, würden die handelnden Personen es genauso ernst mit der Gerechtigkeit meinen wie sie.
Sie steht für sich ein, sagt und handelt klar mit dem unerschütterlichen Willen, angehört werden zu müssen. Sich nicht ignorieren oder mit wohlwollenden Worten, vermeintlich gut gemeinten Ratschlägen, zur Familie zurückzugehen, wo sich alles schon klären würde, abspeisen zu lassen. Dennoch ist sie traumatisiert, kann und will mit Fremden gar nicht im Detail über das eigentliche Verbrechen sprechen, das ihr angetan wurde. Was im ersten Moment wie ein Widerspruch aussieht, kann nur als absolut nachvollziehbar verstehen, wer in Karlas Seelenleben blicken durfte und sich so gut es geht in ihre Lage zu versetzen versucht.
Eine große Bewunderung für das tapfere und so entschlossene Mädchen, gespielt von Elise Krieps, bringt der Film hervorragend rüber. Genau wie er auch erzählt, dass sie alleine trotzdem nichts bewirken kann. Sie braucht den einen wichtigen Verbündeten, Richter Lamy, der ihr früh Gehör schenkt und der sich auch gegen Widerstände von Kollegen aufrichtig mit Karla und ihrem Fall beschäftigt. Er schlägt die Brücke vom traumatisierten Opfer zum emotionslos faktenbasierten Rechtssystem mit Empathie und - erst im Laufe des Films - einem tiefen Verständnis für Karla.
Die Gespräche der beiden in Vorbereitung auf das spätere Gerichtsverfahren machen den Großteil des Films aus. Die Verhandlung selbst ist später überraschend schnell abgehandelt und verläuft wenig überraschend - weil es zu diesem Zeitpunkt im Film auch nichts mehr Wesentliches zu erzählen gibt. Was vom Film in Erinnerung bleibt ist, mitzuerleben wie zwischen Richter Lamy und Karla ein Vertrauensverhältnis entsteht. Wie sie ihm als eine Art Vaterfigur, die ihr eigener Vater nie war, zu vertrauen lernt, obwohl er auch ein Mann ist.
Lamy muss verstehen und damit umgehen lernen, dass Karla über wichtige Details, die ihr im Prozess helfen würden, nicht reden kann. Dies wohl auch niemals können wird. Ein ganz wesentlicher Punkt, der auch heute noch vielfach zutrifft, wenn von Opfern Gewalt zugunsten der eigenen Glaubwürdigkeit erwartet wird, sich mit dem eigenen Trauma nicht nur zu konfrontieren, sondern sich dieses auch bis ins Detail wieder hervorzurufen - es Fremden ausführlich zu schildern.
Es ist die Stärke des Films Karla, dass er seiner jungen Protagonistin ihre Würde lässt, sie als beeindruckend starke Person zeichnet - und gleichzeitig ihre Verletztheit zeigt, den Schaden, der von ihrem Vater, aber auch ihrer ganzen Familie als Mitwisser, als Mit-Verschleierer des unsagbaren Verbrechens angerichtet wurde.
Wir sind einerseits froh, Karla im Kino gesehen zu haben, weil der Film die seelische Lage vieler Opfer sexueller Gewalt in der eigenen Familie, nicht nur von Kindern und auch längst nicht nur aus der Vergangenheit, seinem Publikum erfolgreich voll bewusst werden lässt. Wir Zuschauende sind eigentlich wie Herr Lamy, der lernen muss, auch wenn wir erst mal meinen, es müsse doch alles ganz einfach sein. Man müsse ja nur sagen, was passiert ist und wie oft. So schwer könne das doch nicht sein. Sich ja nur mal ärztlich untersuchen lassen, in diesem Fall natürlich von einem Mann.
Andererseits muss ich auch sagen, dass mich die Verfilmung als solche nicht so sehr überzeugt hat. Der reale Fall, soweit inhaltlich begreiflich geschildert, hat mich gepackt und beschäftigt, auch nach dem Kino noch. Filmisch empfand ich Karla hingegen mehr wie fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen produziert. Statisch und kulissenhaft, dafür dann aber eben auch zu detailarm, was die einzelnen Bilder angeht.
Von deutschen Kritiker*innen wurden explizit die Schauspielerinnen oft gelobt, ich mag mich da nicht so anschließen. Vor allem bei den Nebenrollen im streng geführten Frauenkloster, wo Karla freiwillig einzieht, sind mir einige sehr schlechte Darbietungen sogar ganz bewusst negativ aufgefallen, weil es mich aus den jeweiligen Szenen ziemlich herausgerissen hat.
Elise Krieps und Rainer Bock in den Hauptrollen waren - in Ordnung. Für mich braucht es jedoch bei einem Film, der sich über so weite Strecken eher kammerspielartig zwischen zwei Personen abspielt und bei dem so viel Ungesagtes, so viel innerer Konflikt eine Rolle spielt, wirklich exzellente Schauspielleistungen, damit mich das komplett abholt. Es reichte, um die Idee des Films annehmbar zu vermitteln. Leider wurde aber weder schauspielerisch noch filmsprachlich eine Ebene hinzugefügt, die über das informell Verbale hinausgeht. Man hätte mehr tun müssen, damit Karla im Ganzen nicht so mechanisch, auch an den falschen Stellen zu hölzern dargeboten wirkt.
Einzelne Rückblicke, albtraumhafte Erinnerungen Karlas an die Geschehnisse rund um den Missbrauch an ihr, verstörende Situationen zwischen ihrem Vater und ihr, lassen kurz aufblitzen, dass Regisseurin Christina Tournatzés, deren Debüt-Langfilm dies hier ist, durchaus imstande zu sein scheint, viel eindrücklicheres und packenderes Kino mit erzählender Bildsprache zu inszenieren, selbst wenn sich eigentlich gerade nur zwei Leute im, mal mehr und mal weniger ergiebigen, Gespräch miteinander befinden.
Vom Tiefergehenden aber gab es bei Karla zu wenig für die große Leinwand, wie ich finde. Am besten eignet sich dieser Film als Anlass eines Themenabends mit anschließender Gesprächsrunde, wie sie in Programmkinos häufiger stattfinden. Wo Zuschauer nicht nur hingehen, eines Kinofilms wegen, sondern einer damit verbundenen Thematik, die in so einem Fall dann bei der Veranstaltung erst richtig vertieft wird. Ähnlich empfehlenswert wäre Karla im Fernsehen, für das der Film in meinen Augen ohnehin mehr gemacht wirkt und wo bestenfalls dann ein ähnlicher Themenabend drumherum entsteht.
Abschließend finde ich es wichtig, die größte Erkenntnis von Karlas Geschichte des Films, basierend auf bemerkenswerten wahren Ereignissen, noch einmal klar festzustellen: Es braucht oft die Mutigen, die meist auch Verzweifelten, die sich selbst und all ihre Kraft in einen Widerstand legen, um systemische Ungerechtigkeiten umzustürzen und anderen Mut zu machen, dass es viel braucht, um sich zu wehren - aber dass es sich lohnen kann.
Doch das ist eigentlich gar nicht die größte oder wichtigste Erkenntnis. Sondern eher, dass das eben meistens doch nicht reicht. Dass es immer noch diesen oder diese paar Verbündeten geben muss, die passiv daneben stehen, die sich so plötzlich zum Reflektieren inspiriert fühlen und die dann auch sagen: Das darf nicht sein - auch wenn dies dazu führen kann, eigene Privilegien ablegen zu müssen.
Und es ist noch ein Satz, den Karla sinngemäß im Film wie folgt sagt: "Ich kann gar nicht verlieren, weil ich doch weiß, dass ich die Wahrheit sage. Und die Wahrheit ist nun mal die Wahrheit."
Damit geht sie von etwas aus, was heutzutage immer noch gilt, obwohl es oft so dargestellt wird, als sei es gar nicht so klar. Als sei es ganz kompliziert, schwierig sicher zu sagen. Doch: In den ganz entscheidenden Fragen haben wir gemeinschaftliche und oft auch menschlich inhärente Klarheit darüber, was richtig und was falsch ist. Was wahr und was gelogen. Was böse und was gut. Was scheiße ist und was in Ordnung. Es hat nicht alles unendlich viele Grauzonen und die meisten Menschen wissen das viel genauer, als sie es zugeben wollen, um sich selbst aus der Verantwortung ziehen zu können. Oder weil sie eigenen Nutzen daran haben, wenn es den Anschein hat, dass alles doch nicht so klar ist.
Es tat gut, es hier mal in einem Film von einem sehr jungen Mädchen so kompromisslos geäußert zu hören: Die Wahrheit ist die Wahrheit, reicht das nicht? Richter Lamy verzweifelt erst daran, findet es naiv. Und versteht später doch, dass nicht Karla zu naiv ist, sondern die Erwachsenen und das Rechtssystem aus seiner absoluten Schieflage heraus mit dieser essenziellen Logik, so einem zutiefst unerschütterlichen Glauben an Gerechtigkeit und den Sieg des Guten, gar nicht mehr umzugehen wissen. Und das sollte eigentlich nicht so sein. Dagegen muss immerzu gearbeitet werden, mit aller Kraft, anstatt vor dem Gedanken, nur mit der Wahrheit sowieso nicht weit zu kommen, immerzu in faulen Kompromissen zu kapitulieren. Oder sich gleich geschlagen zu geben.
Autor: Daniel Pook
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Dieser Podcast wurde von Daniel Pook in unserem Studio in Berlin aufgenommen.